Die andere Seite – eine Antwort auf den Beitrag von Karen-Susan Fessel: Die Parade der Betagten

 

Da stehen sie in langer Reihe, die Betagten und die Hochbetagten, mit Unterarmgehstützen und Rollatoren, allein oder zu zweit, einander stützend, einige werden im Rollstuhl geschoben. Es ist ja auch verwirrend und aufregend, da nützen die Farbmarkierungen und die riesigen Zahlen für die 5 Stationen wenig, in der Aufregung wird das alles übersehen.

Die frisch geschulten MitarbeiterInnen, froh, der coronabedingten Arbeitslosigkeit entronnen  zu sein, bemühen sich, Papiere zu sortieren, hilfreich Wege zu begleiten, aufmerksam verlorengegangene Handschuhe und Mützen einzusammeln. Und es gibt ja so viele Gründe, das Hörgerät gerade jetzt nicht nutzen zu können, zuhause vergessen, gestern draufgetreten, keine Batterie mehr, die andere Handtasche genommen, im Auto liegengelassen, und überhaupt, diese ganze Fummelei … Da kann es dann schon mal recht lautstark zugehen im Beratungsgespräch, da haben die nebenan auch was davon.

Risiken? Vorerkrankungen? Ja, wie? Ach so, ja, da war mal der Autounfall vor 30 Jahren, da hatte ich mir zwei Rippen gebrochen, das hat vielleicht wehgetan. Und warum Blutverdünner? Ach, das weiß ich auch nicht so genau. Das war dann wohl der Zucker, glaube ich. Oder der Herzinfarkt oder so. Und Sie nehmen ja ziemlich viele Tabletten ein. Ach, wissen Sie, das macht mein Hausarzt, darum kümmere ich mich nicht. Und mit dem Laufen geht's noch einigermaßen? Nein, das macht ja meine Tochter. Ach so.

Und dann sind da die Aufrechten, die Fitten, mit blitzenden Augen, stellen kluge Fragen, die zu beantworten Freude macht. Da ist dann echte Kommunikation möglich, oft erfrischend und fröhlich. Unvergessen der alte Herr, der beim Hinausgehen den Schal um die Schulter schwingt: „Vielen herzlichen Dank. Es war mir ein Vergnügen.“ Na, das ist doch mal Alte Schule.

Gleich anschließend die Parkinson-Erkrankte, geistig rege, alles verstehend, aber sich nicht äußern können. Erstarrt in Mimik und Bewegungen, eingesperrt in der Bewegungslosigkeit und doch mit dem starken Wunsch, eine Frage beantwortet zu bekommen, einen Satz sagen zu können. Das schmerzt.

Dann später das Paar in Begleitung der Tochter, er demenzkrank mit  unruhigem, fast ängstlichen Blick. Wie muss das sein, sich nicht mehr orientieren zu können? Er wirkt ermattet, in sich versunken, spricht nicht mehr. Sie ist geistig fit und rege, kann aber  nicht mehr laufen. Die Tochter schiebt den Rollstuhl, er schlurft hinterher. Nein, Altwerden ist nicht schön.Und die hier unübersehbar notwendige Pflege muss eine Überforderung darstellen. Es sind so oft die Töchter, die dies leisten. Sie wollen für ihre alten Eltern da sein und merken manchmal zu spät, dass sie ihr eigenes Leben dabei verlieren. Nimmt es da wunder, wenn sie unwirsch werden? Wie finden sie den Weg hinaus aus der sozialen Falle?

Die anderen, die wir hier nicht sehen, werden durch die ambulanten Teams in den Pflegeeinrichtungen geimpft. Und da fehlen dann die Papiere, die notwendigen Unterlagen, die Einwilligungen, die Anwesenheit der vertrauten Bezugspersonen sowieso. Die Bedürfnisse der BewohnerInnen sind dem oft engen Zeitplan des Personals unterstellt. Wer mag das bewerten?

Aber dann kommt auch wieder ein munteres Paar herein, sich gegenseitig stützend: „Wir sind seit 42 Jahren zusammen, nein, nein, nicht verheiratet, wegen der Rente, wissen Sie. Aber ich liebe ihn immer noch. Und nun wollen wir uns hier unseren Pieks abholen.“

Mehrere Male schon waren die Menschen an ihrem Geburtstag zum Impfen einbestellt worden: Ich muss ja dieses Terminmanagement nicht verstehen. Jedenfalls haben sie die Impfung, für die sie teils weite Wege in Kauf genommen haben, als Geburtstagsgeschenk betrachtet: „Die Kaffeetafel fällt ja sowieso aus.“ Und seitdem habe ich immer eine kleine Aufmerksamkeit in der Tasche.

Es ist ein buntes Bild. Die gesamte Bandbreite menschlichen Lebens im Alterungsprozess, das macht bescheiden. Und doch lachen wir ganz viel. Diese Menschen haben einen unglaublichen, feinen Humor.

Und dennoch fallen immer, immer wieder welche auf den Enkeltrick herein.

 

 

PS: Und was die Körpertemperatur anbetrifft: 34°C sind mit Sicherheit eine Fehlmessung. Damit läuft kein Mensch mehr einfach so herum.

Antje Garen  

 

Hier der Blogbeitrag von Karen-Susan Fessel.

und noch ein PS: Das Foto ist das äußere Ende eines riesigen Parkplatzes eines Impfzentrums. Das Zentrum eine "Arena" in die andere Richtung, längerer Weg gegen den Wind, gestern hatte ich, die Verlegerin, meinen ersten Termin, inzwischen sind dort auch viele jüngere (und ich nach gefühlt 100 Jahren keine Auffrischimpfungen -  vergaß ich im Verlagsalltag)      

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